Titel
Die Historiker und die Verfassung. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes


Autor(en)
Grimm, Dieter
Erschienen
München 2022: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
358 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus M. Payk, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg

Bei diesem mit einem verheißungsvollen Titel versehenen Buch handelt es sich eigentlich um einen ausgeuferten Essay. Dieter Grimm, historisch interessierter Staatsrechtslehrer und langjähriger Richter am Bundesverfassungsgericht, hatte sich in einem Münchener Vortrag der Frage gewidmet, welche Rolle das Grundgesetz in der Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik spielen würde. Bereits der erste Befund war für Grimm offensichtlich so unbefriedigend, dass er sich diesem Problem anschließend systematisch gewidmet und seine Befunde, begünstigt von dem unerwarteten Zeitgewinn der Covid19-Pandemie, zu einer über 350-seitigen Monographie zusammengetragen hat. Um das Fazit vorwegzunehmen: Grimm ist mit der deutschen Geschichtsschreibung nicht zufrieden. Sie schenke der Verfassung auch dort zu wenig Beachtung, wo es „sinnvoll, womöglich sogar nötig gewesen wäre“ (S. 41). Würde man sich in der Schule befinden, hätte es vermutlich nur zu einer schwach ausreichenden Note gereicht.

Die vorliegende Wortmeldung ist nicht das erste Mal, dass Grimm eine zu geringe Berücksichtigung des Rechts durch die Geschichtsschreibung moniert. Bereits bei Erscheinen des dritten Bandes der Deutschen Gesellschaftsgeschichte von Hans-Ulrich Wehler hatte er beklagt, dass das Recht dort nicht als eigenständige Achse neben den dominanten Dimensionen Wirtschaft, Sozialstruktur, politische Herrschaft und Kultur aufgenommen worden sei.1 Diese Kritik, die im Anhang des vorliegenden Buches nochmals abgedruckt ist, verhallte seinerzeit weitgehend folgenlos, dürfte aber zum Hintergrund der erörterten Defizite in der historischen Forschung zur Bundesrepublik gehören. Auf welcher Grundlage kommt Grimm zu seinem Urteil? Er hat insgesamt zwölf Gesamt- und Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik (darunter von Eckart Conze, Manfred Görtemaker, Edgar Wolfrum) bzw. die entsprechenden Abschnitte aus Werken zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts (darunter von Ulrich Herbert, Hans-Ulrich Wehler, Heinrich August Winkler) herangezogen und auf Bezüge und Bewertungen des Grundgesetzes durchgesehen. Die zusammengetragenen Befunde werden in fünfzehn systematische Kapitel gebracht, in denen Grimm, beginnend mit einer allgemeinen Betrachtung zum Verhältnis von Rechts- und Geschichtswissenschaft, einzelne Problembereiche und Regelungsfelder der bundesrepublikanischen Verfassungsordnung abschreitet. Im Mittelpunkt seiner Erörterung steht jeweils die Frage, ob die Geschichtswissenschaft die Relevanz des Grundgesetzes mitsamt seiner höchstrichterlichen Auslegung für eine Vielzahl von politischen, aber auch gesellschaftlichen Entwicklungen angemessen behandelt habe.

Der Staatsrechtslehrer zeigt sich dabei als strenger Prüfer. So beanstandet Grimm im Abschnitt über die Ausarbeitung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat, dass drei der betrachteten Darstellungen die Frankfurter Dokumente fälschlich als „Geburtsurkunde“ der Bundesrepublik bezeichnen (S. 46), dass nur in zwei Werken der Streit um die konfessionellen Artikel anklingt (S. 48), dass das Prinzip der Volkssouveränität als Legitimationsgrundlage nicht sauber dargestellt ist (S. 51f.) oder dass die Begründung des Bundesverfassungsgerichts durchweg „sehr selektiv“ (S. 54) behandelt wird. Auch in der Erfassung der Bedeutung der Grundrechte hätten sich die Historiker nicht sonderlich geschickt angestellt, weshalb Grimm einer Formulierung von Adolf Birke etwas barsch entgegenhält: „Ein Blick ins Grundgesetz hätte aber genügt, die Aussage zu widerlegen.“ (S. 58) Beispiele für derartige Beurteilungen lassen sich beliebig vermehren. Das Urteil bereits am Ende dieses frühen Kapitels fällt jedenfalls deplorabel aus: „Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass die herangezogenen Werke das Grundgesetz nicht ausreichend erfassen.“ (S. 59)

An dieser Einschätzung ändert sich im weiteren Verlauf des Buches wenig. Kapitelweise stellt Grimm jeweils dar, wie ein größerer Zusammenhang der historischen Entwicklung – unter anderem die Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft, die Genese des Mediensystems, die Wiedervereinigung, Geschlechterverhältnisse, die Beziehungen zu EG und EU – durch verfassungsrechtliche Aspekte geprägt wurde, dies in den betrachteten Geschichtswerken aber nur in ungenügender Weise Eingang gefunden habe. Was die Lektüre dabei bald verdrießlich macht, sind jedoch nicht allein die ungünstigen Bewertungen, welche der Jurist seinen historischen Kolleginnen und Kollegen ins Zeugnis schreibt, sondern seine am eigenen Anliegen letztlich vorbeiführende Stoßrichtung. Die konsultierten Überblicke, Gesamtdarstellungen, Studienbücher oder Forschungshilfen wollen nur allgemeine Grundlinien der bundesrepublikanischen Geschichte thematisieren und behandeln darum verfassungsrechtliche ebenso wie zahllose weitere Sachgebiete notwendig nur kursorisch. Nicht selten wird die einschlägige historische Literatur zur Verfassungsentwicklung, die es ja durchaus gibt, in diesen Werken im Anmerkungsapparat aufgeführt, sodass eine interessierte Leserschaft dort weiterlesen könnte. Grimm lässt diese Fachliteratur im engeren Sinne nahezu vollständig unberücksichtigt. Dass beispielsweise die Ausarbeitung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat von Michael Feldmann historisch formidabel aufgearbeitet worden ist und nahezu alle Überblicke auf diesen Titel verweisen, erfährt man von ihm nicht.2 Die Fokussierung auf einige Gesamtdarstellungen als repräsentativ für die Geschichtswissenschaft gründet stattdessen in einem etwas schiefen Begriff der allgemeinen Geschichte, in die nach Grimm auch die Verfassungsgeschichte zwingend gehört (S. 37f.), wiewohl gerade bei Überblicksdarstellungen die Relevanz der Gegenstände und die Stoffauswahl nach anderen Kriterien erfolgen dürfte.

Trotzdem wäre es unbillig, über das Buch in einen Streit der Fakultäten zu geraten. Dass Grimm durchaus einen wunden Punkt trifft, wenn er eine stärkere Berücksichtigung des Grundgesetzes durch die historische Profession einfordert, lässt sich nicht bestreiten. Seine Ausführungen lassen sich darum immer dort mit Gewinn lesen, wo sie Fingerzeige auf verfassungsrechtliche Einflüsse und Entwicklungen bieten, die in der Geschichtswissenschaft bislang wenig thematisiert worden sind. Dass sich die historische Forschung noch kaum mit den in den 1960er-Jahren aufkommenden Forderungen nach einer „Totalrevision“ des Grundgesetzes beschäftigt hat, ist ebenso zutreffend wie ihre oft teleologische Behandlung der Beitritts- und Verfassungsdiskussion im Zuge der deutschen Vereinigung 1990. Auch die mit dem Lüth-Urteil von 1958 formulierte Erwartung einer „objektiven Wertordnung“, welche Politik und Gesellschaft in Gänze erfassen sollte, wird von der historischen Forschung oft unterschätzt, obwohl dazu, wie auch Grimm am Rande anmerkt, bereits erste rechtshistorische Annäherungen vorliegen.3 Zugleich wird man jedoch fragen müssen, inwieweit das Bundesverfassungsgericht mit solchen Urteilen einen Wandel der politischen Kultur tatsächlich ausgelöst oder ob es nur vorhandene Trends gespiegelt und bestenfalls verstetigt hat. Der von Grimm aufgeworfene Begriff der „Fernwirkungen“ (S. 161), mit denen die höchstrichterliche Judikatur auf die bundesrepublikanische Entwicklung in der Breite ausgestrahlt habe, dürfte einer historischen Bestimmung nicht ohne weiteres zugänglich sein, zumindest wenn man gleichzeitig auf Gegenstandsnähe und Quellengebundenheit besteht. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Grimm verschiedentlich auf ein verstärktes Interesse der Politikwissenschaft an Verfassungsfragen hinweist und als nachahmenswertes Beispiel empfiehlt (S. 311f., S. 325). Es hat jedoch gute Gründe, dass die Geschichtswissenschaft gegenüber den großen Linien, abstrakten Kategorien und theoriegeleiteten Betrachtungsweisen dieser Nachbardisziplin oft verhalten reagiert und als ihre Stärke die kleinteilige Analyse einzelner, auch verstreuter, unveröffentlichter, unbeachteter Quellen begreift. In diesem Sinne sollte zwar die von Grimm nachdrücklich empfohlene Lektüre der Karlsruher Urteilsbegründungen ernster als bisher genommen werden, daneben sollten aber auch vermehrt Einblicke in das Innenleben des Bundesverfassungsgerichts gesucht werden. Die historische Forschung hat damit immerhin in Ansätzen begonnen, wenngleich sie sich nicht in erster Linie für die normative Ausstrahlungskraft des Gerichts als Verfassungsorgan interessiert, sondern mehr für seine institutionellen Untiefen, seine Verstrickung in den Politikbetrieb, das Selbstverständnis seiner Akteure, die Zeitgebundenheit seiner Urteile.4

Am Ende steht auch der geneigte Leser etwas ratlos vor der Grimm’schen Philippika. Seinem Diktum einer gegenüber dem Grundgesetz desinteressierten bis ignoranten Geschichtswissenschaft lässt sich zwar selbst dann zustimmen, wenn man die empirische Grundlage dieses Urteils für methodisch anfechtbar hält. Die von Grimm geforderte „Wirkungsgeschichte“ des Grundgesetzes dürfte sich jedoch in der historischen Forschung nur schwer und nur anhand umgrenzter Gebiete und konkreter Gegenstände realisieren lassen. Das gesteht am Ende wohl auch Grimm ein, indem er diese anfänglich noch der allgemeinen Geschichtswissenschaft zugewiesene Aufgabe im letzten Absatz wieder dem juristischen Teil der Verfassungsgeschichte zuordnet (S. 40f., S. 325). Das interdisziplinäre Gespräch kann in der Tat nicht darin bestehen, ein anderes Fach auf die Maßstäbe und Erkenntnisinteressen der eigenen Profession zu verpflichten. Die historische Forschung bleibt insofern aufgefordert, das bundesdeutsche Verfassungsrecht stärker als bisher in den Blick zunehmen, sich dabei aber im Vertrauen auf die eigenen Methoden und Maßstäbe nicht irritieren zu lassen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Dieter Grimm, Die Bedeutung des Rechts in der Gesellschaftsgeschichte. Eine Anfrage, in: Paul Nolte u.a. (Hrsg.), Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, München 2000, S. 47–57. Dazu auch Frieder Günther, Zeitgeschichte und Recht, in: Markus Rehberg (Hrsg.), Der Erkenntniswert von Rechtswissenschaft für andere Disziplinen, Berlin 2017, S. 83–104, hier S. 84–86.
2 Vgl. Michael F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948-49. Die Entstehung des Grundgesetzes, überarb. Neuausg., Göttingen 2019.
3 Vgl. Thomas Henne / Arne Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2005. Siehe dazu auch die Besprechung von Viktor Winkler, in: H-Soz-Kult, 08.09.2006, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-8996 (15.11.2022).
4 Neben dem von Grimm erwähnten Buch von Justin Collings, Democracy‘s Guardians. A History of the German Federal Constitutional Court 1951–2001, Oxford 2015, wäre hinzuweisen etwa auf die Studie von Sebastian Gehrig, Legal Entanglements. Law, Rights and the Battle for Legitimacy in Divided Germany, 1945–1989, New York 2021, oder den Tagungsband von Anselm Doering-Manteuffel / Bernd Greiner / Oliver Lepsius (Hrsg.), Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 1985, Tübingen 2015. Eine aktenmäßig fundierte „Verortung des Bundesverfassungsgerichts in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts“ wird derzeit in einem Projekt am IfZ München unternommen, siehe https://www.ifz-muenchen.de/forschung/ea/forschung/das-bundesverfassungsgericht-nach-dem-nationalsozialismus (15.11.2022).

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